Es war im Frühjahr 1982. Da spielte ich als 11-jähriger Pimpf mit Freunden vor dem Haus meiner Großeltern. Sie bewohnten einen dieser Wohnsilos, die man in den 60er Jahren für die Arbeiter des nahen VW-Werks in der Siedlung am Schwarzen Berge aus dem Boden gestampft hatte. Hier aufzuwachsen war schon fast ein Privileg. Die riesen Rasenflächen vor den Hochhäusern am Sielkamp luden förmlich zum Fußballspielen ein. Auch wenn man sich häufig einen Rüffel der dortigen Anwohner einfing, so hatten doch die meisten Verständnis dafür, dass man nicht gerne auf dem nahe gelegenen Schotter-Bolzplatz seine Knie ruinieren wollte.
So war es auch an jenem doch recht warmen Mai-Tag vor dem Hause Sielkamp 30. Die ersten Geranien und Petunien wurden von den älteren Bewohnern des Mehrfamilienturmes in die Balkonkästen gepflanzt, während wir uns zu sechst mit einem kleinen Kick auf die bald beginnende Fußball-Weltmeisterschaft in Spanien einstimmen wollten. Gerade als wir unsere “Mannschaften” zusammengestellt hatten, betrat eine groß gewachsene Person die Szenerie und beobachtete uns eine Weile mit seinen dunklen Augen. Uns wollte vor Aufregung nicht recht viel gelingen. Nach jedem misslungenem Torschuss, nach jeder halbherzigen Parade und nach jedem verlorenen Zweikampf, huschten unsere Blicke ehrfürchtig zu dem dunkelhaarigen Mann, von dem wir glaubten, dass er uns irgendwie benotete. Ich meine noch heute, ab und an ein verschmitztes Lächeln in seinem Gesicht gesehen zu haben, doch ganz sicher bin ich mir nie gewesen. Nach knapp zwanzig Minuten war dieser hagere Kerl verschwunden und wir Jungs hatten ab sofort kein anderes Gesprächsthema mehr.
An Fußballspielen war fast gar nicht mehr zu denken und just, als wir die Zelte abbrechen wollten, gellte ein Pfiff über den Rasen. Wieder war es dieser Typ mit den tiefen, dunklen Augen, die aus seinem kantigen Gesicht stachen, wie die eines Adlers. Er winkte uns zu sich. Zögerlich, ja beinahe ängstlich leisteten wir seiner Aufforderung folge. Auch wenn uns unserer Eltern eindringlich warnten, dass wir uns niemals und auf gar keinen Fall in solch eine Situation begeben sollten, so konnten wir hier nicht widerstehen. Als wir uns wie die Orgelpfeifen vor ihm aufbauten, musterte er uns eindringlich. Erst jetzt fielen mir diese buschigen Augenbrauen auf. Dann fragte er uns, ob wir schon mal im Stadion waren. Ich verneinte, wie auch drei meiner Freunde. Unsere Eltern konnten sich damals nicht viel erlauben. Sie machten zwar für uns Kinder so viel wie es nur ging möglich, aber an einem Stadionbesuch war kaum zu denken, auch wenn ich mit der Eintracht sympathisierte. Ob wir denn Interesse hätten, fragte er uns. “Mhhmhhh”, nickten wir unisono, immer noch etwas eingeschüchtert. Dann plötzlich zog er seine rechte Hand hinter dem Rücken hervor und hielt uns sechs schweinchenrosane Karten vor unsere Nasen. Deutlich war dort in schwarzer Schrift zu lesen “Eintracht Braunschweig gegen 1. FC Köln, Haupttribüne, Block 6”. Fast paralysiert nahmen wir die Karten entgegen. Breit grinsend stapfte der Mann davon und rief uns noch einmal zu: “Dass ihr mir ja die richtigen anfeuert”, um dann um die Hausecke zu verschwinden.
Zuhause angekommen staunten meine Eltern nicht schlecht, als ich ihnen die Geschichte von dem großen Mann erzählte, der uns die Eintritskarten zu meinem ersten Eintracht-Spiel geschenkt hatte. Da es noch ein paar Tage hin waren, hütete ich diese Karte wie ein Goldschatz. Jeder Morgen folgte ab sofort einem festen Ritual, welches beinhaltete, dass ich nach dem Aufstehen immer erst schaute, ob diese Eintrittskarte auch noch fest an ihrem Platz lag. Dann, am 22.05.1982 war es so weit. Meine erste richtige Begegnung mit der Eintracht und vor allem ein Wiedersehen mit dem Mann, der dies alles erst Möglich machte. Da stand er nun, hochgewachsen und voll konzentriert auf seine Aufgabe. Es wurde ein spannendes Spiel in dem für die Eintracht Grobe, Worm, Pahl und Geyer die Tore schossen. Leider hatten aber auch die Kölner einen guten Tag erwischt und Bonhoff, Woodcock (2x) und Littbarski setzten den Mann, der uns die Karten schenkte, ungünstig in Szene: der Nationalkeeper Bernd Franke musste an dem Tag viermal hinter sich greifen.
So unvergessen wie dieses Ereignis ist, so tief ist die Verbundenheit seit dem zur Eintracht. Die Blaugelben haben damals nicht geglänzt, aber es war und ist mein Heimatverein. Seither war es nie die Liga, die mich zur Eintracht trieb, sondern immer dieses kribbelige Gefühl das mich umgibt, wenn ich mit den tausenden von Eintracht-Fans zusammen die Zugänge zum Stadion anvisiere, mit Freunden bei einem Bier den ungewissen Ausgang der folgenden Partie vor Augen führe, über Taktik, Stärken und Schwächen sinniere und vor Nervosität während des Spieles dieses leichte Beben in der Stimme fühle. Für mich ist das Spiel der Eintracht das Highlight, nicht der Gegner. Natürlich sind die Mannschaften der Bundesliga attraktiver, als FSV Frankfurt, SV Sandhausen, oder SC Paderborn, doch letztlich ist es die Eintracht, die die Gefühlsregung in mir auslöst. Und auch wenn mich ein verpasster Aufstieg in die 1. Liga durchaus ärgern würde, so würde ich meiner Eintracht niemals den Rücken kehren, denn sie wird auch in der nächsten Saison wieder für mich, für uns auf dem Platz stehen und alles geben, damit wir dieses kribbelige Gefühl erleben dürfen.
Eintracht ist eben alles!