Wenn eine Fußballmannschaft nach zwei Spieltagen noch keinen einzigen Punkt geholt hat, spricht man gern von einem “klassischen Fehlstart”. Auf die ersten beiden Bundesligaauftritte der Eintracht Braunschweig aber trifft dieses Signum nicht zu. Denn Eintrachts Hauptaufgabe in dieser Saison ist nicht zwingend das Einfahren von Punkten.
Um das zu verstehen, muss man sich immer wieder vor Augen halten, wo der BTSV vor gerade einmal fünf Jahren stand: direkt am Abgrund. Als Benno Möhlmann die Brocken hinschmiss, weil er fürchten musste, das Saisonziel “Qualifikation für die eingleisige Dritte Liga” nicht schaffen zu können, war Eintracht im Grunde tot. In der Vorsaison hatte Eintracht den traurigen Rekord aufgestellt, in der zweiten Bundesliga fünf Trainer zu beschäftigen und in der Winterpause eine komplett neue Mannschaft (naja…) einzukaufen. Blinder Aktionismus, der zurecht mit einem sang- und klanglosen Abstieg belohnt wurde. Kurz vor dem Ende der Saison 2007/08 sah alles danach aus, als würden die Löwen sogar komplett von der Bildfläche verschwinden. Es war das viel zitierte Wunder von Essen, das Eintracht im bezahlten Fußball hielt – der 1:0-Auswärtssieg der längst als Absteiger feststehenden insolventen Lübecker bei Rot-Weiß Essen. Eintracht beendete die Saison als Zehnter, das war die notwendige Minimalplatzierung – punktgleich mit dem 1.FC Magdeburg und nur zwei Zähler vor Essen. Der Löwe war zwar übelst angeschossen, dem Tod aber noch einmal von der Schippe gesprungen. Der Mann, der die letzten drei Spieltage Verantwortung übernahm und die Eintracht rettete, war Torsten Lieberknecht – übrigens der einzige, der dieses Himmelfahrtskommando antreten wollte. Mit sieben Punkten in diesen drei Partien gelang Lieberknecht das eigentlich Unmögliche – Eintracht qualifizierte sich doch noch für die eingleisige Ditte Liga. Bemerkenswert: an keinem einzigen Spieltag stand der BTSV in dieser Saison auf einem Qualifikationsplatz, der Sprung zum Klassenerhalt gelang erst am allerletzten Spieltag.
Das war also vor fünf Jahren. Was wir seitdem erleben durften, ist nichts anderes als ein unglaubliches Fußballmärchen. Der chronisch klamme, sportlich bedeutungslose, innerlich zerstrittene BTSV hat sich neu erfunden. Wer hätte das geahnt, als der bei den Fans damals vollkommen unbekannte Sebastian Ebel Ende 2007 als Nachfolger von Gerhard Glogowski zum Präsidenten gewählt wurde? Allerdings herrschte um die Eintracht herum eine gewisse Sehnsucht nach unverbrauchten, unbelasteten Personen – die Erinnerungen an das Task-Force-Debakel waren noch zu frisch. Wer weiß, ob ein akribischer, uneitler Arbeiter wie Ebel ansonsten eine Chance besessen hätte, die Vereinsführung zu übernehmen?
Trainer ist auch heute noch Torsten Lieberknecht. Die Eintracht tat gut daran, dem sympathischen Pfälzer das Vertrauen nicht zu entziehen, als es sportlich in der Folgesaison 2008/09 noch nicht wirklich rund lief. Lieberknecht absolvierte parallel zum Ligabetrieb seine Trainerausbildung in Köln und war nur unregelmäßig vor Ort in Braunschweig. In der Bilanz stand am Ende ein unspektakulärer 13. Platz. Nach oben ging schon früh nichts mehr, nach unten aber auch nicht. Es war die Lehrsaison des Torsten Lieberknecht, die Gesellenprüfung. Seitdem arbeitete der Coach an seinem Meisterstück. Aus meiner Sicht ist ihm dieses Meisterstück spätestens in der vergangenen Saison gelungen. Aufstieg in die Bundesliga, nach 28 Jahren der Verbannung – wie geil ist das denn? Und im Gegensatz zu anderen hatte Lieberknecht nicht mit vollen Geldsäcken einkaufen dürfen, sondern musste sich seine Spieler selbst formen. Im deutschen Profifußball der vergangenen Jahre ist diese Entwicklung ziemlich einmalig.
Jetzt spielen wir also wieder in der Ersten Fußball-Bundesliga. Und auch hier bleibt sich die Eintracht treu. Früher hätte man die Ersatzbänke der anderen Vereine leergekauft, den Etat beim Versuch, den Klassenerhalt zu erzwingen, gnadenlos ausgereizt. Das passiert heute nicht mehr. Eintracht hat den Kader, der teilweise seit Drittligazeiten zusammenspielt, lediglich punktuell verstärkt. Mondablösesummen gibt es nach wie vor nicht, der BTSV ist wohltuend zurückhaltend. Dass man es mit einer derart bodenständigen Transferpolitik schwer haben würde in der besten Liga der Welt mitzuhalten, war uns doch vorher klar. Aber es gibt dazu keine Alternative. Eintracht hat in der Zeit, als andere Bundesligisten sich Winterspeck anfuttern konnten, in der Dritten Liga gekickt. Die Strukturen, die anderswo fast zwangsläufig entstanden, gibt es in Braunschweig noch nicht. Der Verein tut also gut daran, das Geld, das man in der Beletage des deutschen Fußballs einnimmt, nicht mit vollen Händen herauszuwerfen, weil man auf kurzfristige Erfolge hofft. Eintracht investiert stattdessen in fehlende Strukturen, die sich für den Verein spätestens dann als Segen erweisen werden, falls die Mission “Klassenerhalt” misslingt. Denn dann wird man gefestigt in eine neue Mission starten können, die Mission “Sofortiger Wiederaufstieg”.
In der Zwischenzeit vertrauen wir ruhig einer Mannschaft, die aus Fußballern mit Herz besteht, die alles geben für das gelbe Trikot mit dem roten Löwen. Die 90 Minuten lang kämpfen, rackern, alles probieren. Und am Ende wohl einige Male zwar Lob, aber keine Punkte mitnehmen könnten. Dass es nicht so laufen muss, haben allerdings die beiden ersten Saisonspiele gezeigt. Gegen Werder Bremen musste die Mannschaft erst in der Bundesliga ankommen, brauchte dafür eine Halbzeit lang. Die zweiten 45 Minuten dominierte man die Bremer und hatte lediglich Pech, dass die Partie nicht 1:0, sondern 0:1 endete. Und in Dortmund bewies der BTSV, dass man als homogenes Kollektiv auch gegen die zweitbeste Vereinsmannschaft der Welt bestehen kann. Letztendlich brauchten die Borussen 75 Minuten, bevor die Abwehr aus Granit (“so wie einst Real Madrid”) geknackt wurde. Und das schaffte dann auch kein Superstar, sondern einer, der eher bei Torsten Lieberknecht ins Konzept passen würde als bei den börsennotierten Borussen.. Diese Eintracht ist in der Bundesliga also nicht chancenlos – die Saison startet diesen Sonntag, beim Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt.
Von Fehlstart kann bei dieser Eintracht wirklich keine Rede sein. Denn abgerechnet wird in dieser Spielzeit nur sekundär nach Punkten. Vorrangig geht es darum, den Abstand auf die anderen Bundesligisten aufzuholen, den die Eintracht nach 1985, dem Jahr des von Günter Mast gewollten Abstiegs, anwachsen ließ. Wenn das auch weiterhin gelingt, wird die Eintracht auf Dauer unter den besten 20 Mannschaften des deutschen Fußballs angesiedelt sein. Das ist wertvoller als jeder aktionistische Versuch, die Klasse auf Biegen und Brechen zu halten.
Zum Abschluss gönnen wir uns einen Blick auf die Mannschaften, die in der Saison 2007/08 den Sprung in die eingleisige dritte Liga nicht schafften:
Von diesen Vereinen spielt mittlerweile nur der SV Elversberg in der Dritten Liga. Der Rest? Maximal viertklassig. Wir dürfen nie vergessen: es hat nicht viel gefehlt und der BTSV wäre Teil dieser Liste geworden. Statt der Ersten Mannschaft spielen Eintrachts Amateure in der Regionalliga Nord, und im Eintracht-Stadion tummeln sich Borussia Dortmund, Bayern München und Schalke 04. Uns geht’s gut. Verdammt gut.